Kreuzbergs Wotan

Er hatte 64 Freundinnen, kleine, scharfe Biester, und nachts stieg er hinab zu ihnen. Er stieg in den Keller der Kloedenstraße 1 a, Berlin-Kreuzberg, vier Stufen unter der Stadt, Fenster in Bordsteinhöhe. Hier, im Schein der Arbeitslampe, betrachtete und streichelte er seine Freundinnen, „das waren Momente“, sagt er, „da war ich glücklich“. Er grinst schief. „Hat nicht jeder Mensch irgendwo sein Geheimnis?“

Das Geheimnis des Werner Brockhoff: 64 Pistolen, davon 20 auf Waffenschein, jedoch 44 selbst gebaut, illegal, Dekorationswaffen, die er scharf machte. 349 Handgranaten, eigene Herstellung, 176 Kilo Sprengstoff, selbst angemischt, die Maschinenpistole hinterm Kühlschrank, die Winchester, Kaliber 7.62, aus dem Fach hinter der Anrichte – und jetzt war alles dahin, lagerte in der Asservatenkammer des Landeskriminalamtes Berlin. Mehr als 130 000 Euro, sagt Brockhoff, seien futsch. „Hab mich in die Scheiße geknallt, auf Deutsch gesagt.“

Brockhoff, 59 Jahre alt, grinst schief, das Lächeln tut weh, die Gesichtshaut ist dünn wie Butterbrotpapier, seine Finger purpurrot und geschwollen, als hätte man sie aufgeblasen. Die Haut stammt von seinen Oberschenkeln und Waden. „Verbrennungen zweiten und dritten Grades“, sagt Brockhoff.

Vor sieben Monaten sprengte Werner Brockhoff sich in seiner Werkstatt beinahe in die Luft, die Polizei kam, alles flog auf. Vier Wochen lag er im Unfallkrankenhaus Marzahn. Im September dann der Prozess, vorm Landgericht Berlin. Brockhoff wurde nach politischen, rechtsradikalen Neigungen gefragt, er verneinte, nur das Technische fasziniere ihn. Der Richter fragte: Sind Sie ein Waffennarr? Brockhoff zögerte, sagte leise: ein Liebhaber.

Das Urteil: drei Jahre, drei Monate.

Brockhoffs Liebe zum Knall begann im Osten. Der Junge, geboren in Gera-Kaimberg, sein Vater in Russland gefallen, seine Mutter Verkäuferin, war ein durchschnittlicher Schüler. Bis ein neues Fach auf den Stundenplan kam: Chemie. Die anderen Schüler stöhnten, Brockhoff konnte sein Glück kaum fassen. „Dass so viel Energie in den Stoffen steckt“, sagt Brockhoff andächtig, „war eine Erleuchtung.“

Die Scheune seiner Großeltern baute er zum Labor um. Er sparte für Erlenmeyerkolben, bezog aus der Drogerie Kaliumchlorat und Gallussäure, er legte sich ein Arbeitsbüchlein an, in das er jedes Experiment eintrug. „Am liebsten natürlich solche, wo es rumste.“ Das Buch hat er 47 Jahre lang aufgehoben, es ist konfisziert worden. „Stand wohl zu viel Gefährliches drin.“

Brockhoffs Vorbilder: Justus von Liebig, Alfred Nobel.

Zu gern hätte Brockhoff Chemie studiert. Doch er hasste den verordneten Sozialismus der DDR. Stattdessen: eine Maurerlehre, später eine Ausbildung als Dreher. Er heiratete, zwei Töchter kamen; seine wahre Liebe aber galt den Explosivstoffen.

Im Jahr 1977 wollte Brockhoff fliehen. Sein Plan: eine Sprengung im Streckmetallzaun zwischen Thüringen und Bayern. Minen und Selbstschussanlagen würden unschädlich, und er könnte in die Freiheit spazieren. „Die Ladung war einwandfrei, Ammoniumperchlorat und Nitratgemisch, aber das Menschliche hatte ich nicht bedacht – ich wurde verpfiffen.“ Nach sechs Jahren Haft wurde Brockhoff nach West-Berlin abgeschoben, 1983, und hier arbeitete er als Truppführer bei einer Firma für Munitionsbergung, wo sonst.

Brockhoff zieht ein Fotoalbum aus der Schrankwand. Die Aufnahmen sind akkurat beschriftet: „Hier, ’ne 500-Kilo-Bombe in Tiergarten, mit Säure-Langzeitzünder. Und da – Panzerabwehrgranaten mit Kugelsicherung.“ Brockhoff auf den Fotos: klein, stämmig, steht er neben den Funden, mit Helm und Haltung eines Archäologen.

Brockhoff, der Bombenflüsterer.

„Aber befriedigend war’s nicht: Nie durften wir dabei sein, wenn gesprengt wurde.“

Befriedigend war sein Hobby. Waffen bauen, technisch perfekt, und Silvester in den Wald fahren, um es krachen zu lassen. Nach außen unscheinbar, gebot Werner Brockhoff insgeheim über Urgewalten; über Blitz, Donner, Kriegsgetöse – der Kreuzberger Wotan.

Am Nachmittag des 31. März, um 16.30 Uhr, ging Brockhoff in die Werkstatt, Handgranaten bauen. Er hatte gerade ein Gewinde geschnitten, das Schneidöl mit Benzin abgewaschen, er knipste die Lötflamme an, das war ein Fehler: Brockhoff hatte vergessen, die Benzindose zu schließen. Lötfunken spritzten, das Benzin fing Feuer, explodierte mit lautem Puff. Eine Flamme stand lodernd über der Werkbank, Brockhoffs Gesicht, Arme, Hände wurden im Nu geröstet. Rechts oben, auf dem Schrank, lag Schwarzpulver – es explodierte. „Mir fiel natürlich gleich ein, was da sonst noch hochgehen könnte.“ Nämlich, auf zweieinhalb mal dreieinhalb Quadratmetern: Nitratpulver, Schwefel, Magnesium, Aluminiumpulver, 18 000 Schuss Munition.

Zutaten zum Urknall.

Brockhoff taumelte zum Wassereimer, „den sollte man übrigens immer gefüllt in der Werkstatt haben“. Er löschte das Feuer, obwohl seine Haut in Fetzen hing, er fast nichts mehr sah. Als Feuerwehr und Polizei eintrafen, wollte er die Angelegenheit noch als kleines Bastler-Malheur darstellen, aber er fiel in Ohnmacht.

„Explosionen sind Urkräfte, da kannste nichts vertuschen“, sagt Brockhoff düster; aber auch stolz.