Käse aus dem Off

Käseforschung ist kein Spaziergang, kein Kinderspiel, all die Testreihen, Nächte und Wochenenden, die man im Labor verbringt, brütend über Chromatografie-Resultaten, Protease-Sequenzen, Peptid-Formationen, Kefir-Kulturen; aber nach drei Jahren hatten sie ein Ergebnis, und sie veröffentlichten es im „Oxford Journal of Archaeology“, was für einen Biochemiker fast schon ein bisschen unter seiner Würde ist.

Dann kam die Mail, der Triumph.

Die Redaktion der Zeitschrift „Nature“ teilte mit, die Resultate aus Dresden seien als „Highlight“ für die nächste Nummer vorgesehen; mehr Anerkennung war kaum denkbar. Sie hatten einen Käse erforscht. Ein Sturm von Anfragen brach über sie herein.

„Also – am Ende steht Sieg“, sagt Andrej Shevchenko. Er sitzt in seinem Büro, Max-Planck-Institut, Dresden, Zimmer 139/Nord, er kratzt sich den Bizeps, wackelt mit den Zehen. Seine Straßenschuhe stehen unter dem Tisch, während der Arbeit trägt er Birkenstock-Sandalen, ein formloses T-Shirt, Dreitagebart. Geboren ist er im damaligen Leningrad, seit 1996 lebt er in Deutschland. In einem staubigen Regal eine Urkunde: Preis der „Deutschen Gesellschaft für Massenspektrometrie“.

Auf dem Weg zu ihm geht man vorbei an lichtdurchfluteten Labors, die mit piependen, rauschenden, tuckernden, summenden Geräten ausgestattet sind, wo seine Leute an Proben von Fruchtfliegen, Spulwürmern, Maden arbeiten; Shevchenko holt einen Stuhl für seine Frau Anna, sie arbeitet auch hier. Er ist bärig-brummig, sie klein, schmal, lebhaft.

Die beiden kennen sich aus Russland, vor 26 Jahren haben sie sich in einem Labor ineinander verliebt, wo sonst. Sie haben zwei Kinder, außerdem die Angewohnheit, sich gegenseitig ins Wort zu fallen, vor allem aber haben sie eine Leidenschaft – die Proteinanalyse. Was immer das sein mag.

„Was ist Proteinanalyse? Wichtige Frage! Proteine werden untersucht mittels Massenspektrometrie“, sagt er.

„Du erklärst nicht gut“, sagt sie.

„Bitte, dann du“, er schüttelt ungläubig den Kopf.

„Man kann sagen, Proteinanalyse ist Abenteuer“, sagt sie und lächelt.

Das Abenteuer begann, als sich 2011 ein chinesischer Archäologe namens Dr. Yang Yimin meldete. Ob sie den Halsschmuck der „Schönen von Xiaohe“ entschlüsseln könnten?

Bei der „Schönen“ handelt es sich um eine 4000 Jahre alte, mumifizierte Frau aus der Wüstenregion im Westen Chinas. Um ihren Hals fanden die Archäologen kleine, braune Bröckchen. Eine Kette? Ein magisches Irgendwas? Menschenfleisch? Wie lebten diese Leute? Woran glaubten sie? Yang hatte viele Fragen, große Fragen.

Die Shevchenkos hingegen bewegen sich in der Welt der sehr kleinen Zusammenhänge. Sie finden: Gott ist in den Details.

Wäre eine Fruchtfliege, Drosophila melanogaster, so groß wie ein Passagierflugzeug, wäre ein durchschnittliches Bakterium im Vergleich dazu ein Tennisball. Dieses tennisballgroße Bakterium bestünde auch aus Proteinen, Eiweiß-Bausteinen. Würde man sich nun ein Bakterium von der Größe eines Hochhauses denken, dann wäre ein mittleres Protein so groß wie ein Streichholzkopf. Das sind die Größenverhältnisse, in denen die Shevchenkos unterwegs sind.

Mit Massenspektrometrie bestimmt man die Masse eines Moleküls. Allerdings nicht, indem man es wiegt. Sondern indem man das Molekül spaltet, es in Bewegung versetzt, zum „Fliegen“ bringt. Das geschieht, indem man die Molekülteile ionisiert, elektrisch lädt. Vom „Flugverhalten“ lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die Beschaffenheit der Substanz, Kohlenstoff oder Eiweiß, Salz oder Fett.

Zunächst reinigten die Shevchenkos die Bröckchen, indem sie Fette und Salze auskämmten. Dann spalteten und ionisierten sie die Proteine, verglichen sie in einer Datenbank von 35 Millionen anderer Substanzen. Bis sie sicher waren: Bei den Bröckchen handelt es sich um Käse. Aber was für Käse? Immer neue Vergleichsmessungen. Immer neue Labordaten.

Die Geschichte der erforschten Käseklümpchen müsste eigentlich in Schulbüchern nachgedruckt werden – als Beispiel, wie Naturwissenschaft funktioniert, als Lehrstück, wie Neugier, Intelligenz, Sturheit und Akribie zu einem Resultat führen können. Einerseits sinnlos, andererseits großartig.

Am Ende wussten sie, dass die Bröckchen vor 4000 Jahren eine Art Kefir-Käse gewesen waren, wahrscheinlich eine Grabbeigabe, Wegzehrung für die letzte Reise. Die Archäologen, Yang und seine Kollegen, waren sehr aufgeregt. Was bedeutet es, wenn man Käse als Grabbeigabe verwendet? Waren diese Menschen womöglich die Ahnen der heutigen Chinesen? Waren sie eine frühe Hochkultur?

Die Shevchenkos beteiligten sich nicht an diesen Spekulationen. Ihr Job war es gewesen, ein Rätsel zu lösen, eine präzise Antwort zu geben. Erledigt. Sie arbeiten am nächsten Projekt: 4000 Jahre altes Lampenöl. Woraus es gewonnen wurde. In ein paar Jahren wissen sie mehr.