Drei Fischer für Hollywood

Joe Kissack schiebt die Moskitotür auf, tritt auf den Balkon. Die Balkons in dem Hotel sind winzig, doch sie gehen wenigstens aufs Meer hinaus. Sturm ist aufgekommen, der Wind biegt die Palmen, Wolken jagen über den Nachthimmel, trotzdem ist es heiß hier in San Blas. Joe öffnet eine Cola light, stützt sich auf dem Balkongeländer auf und erzählt.

Morgen also der große Tag.

Die Präsentation in Tepice, er hat das beste Hotel gemietet, zwei Autostunden von San Blas entfernt, in der Kreisstadt. Angemeldet haben sich die brasilianische „TV Globo“, „Televisa“ aus Mexico City, ein spanischer Sender, „TV5“, dazu ein Dutzend mexikanischer Zeitungen, deren Namen er sich beim besten Willen nicht merken kann, außerdem hat ein Typ vom „New Yorker“ sich gemeldet, die „Sun“ aus London, ein Filmproduzent aus Mexico City, die Sache kommt in Gang.

Zwei Dutzend Interviewanfragen, die Jungs müssen ordentlich ran morgen. Seine Jungs, die Fischer.

Er bewundert sie. Sie haben das Härteste durchgemacht, was Menschen durchmachen können. Was sie wohl über ihn denken? Aber mit Leuten, die einem wildgewordenen Hai in den Schwanz beißen, spricht man besser nicht über endogene Depressionen und Burn-out. Aber jetzt ist er einer von ihnen, und Ruhm und Dollars wird er ihnen bescheren, sich selbst natürlich auch, Paramount hat geantwortet, Warner Brothers auch, mal sehen. Aus

  1. A. liegen Angebote vor, von Drehbuchautoren, zwei davon klingen ganz gut.

Eine große Geschichte vermag alles zu verwandeln, seine drei Fischer, das Leben der Leute hier, dieses ganze Kaff, San Blas.

Man kann die Helden der globalen StoryIndustrie nach zwei Typen unterscheiden: den klassischen und den modernen. Die Klassiker, erfundene Figuren wie Achilles oder Superman, sind Heroen aus innerer Bestimmung. Sie können nicht anders, also suchen sie sich eine Aufgabe und legen los.

Der moderne Held hingegen lebt wirklich, er wird erst durch die Umstände zum Helden. So wächst er über sich hinaus, findet sich selbst. Die globalen Märchenerzähler, Hollywood und seine Agenten, die Joe Kissacks dieser Welt, suchen nach solchen Helden. Und je globaler die Welt, je verflochtener die Kulturen, desto schneller und leichter werden die Storys international vermarktbar. „Der Sturm“, die Geschichte von verschollenen Fischern, spielte 330 Millionen Dollar ein, „Cast Away“, die Story eines gestrandeten Flugzeugpassagiers, 430 Millionen.

Joe trinkt den letzten Schluck, knüllt die Dose, geht wieder rein. Zieht die quietschende Balkontür hinter sich zu, draußen orgelt der Sturm, ächzen die Palmen. Joe knipst seinen Laptop an. Er wird sich an seine Drehbuch-Skizze setzen, die Nacht durcharbeiten, hier auf Zimmer 31, und sie noch einmal polieren, die Geschichte seines Lebens, die in Wahrheit die Geschichte von fünf Fischern ist – so, wie sie sie erzählten, Joe, ihrem Agenten, und den Journalisten, die nach San Blas gereist sind, an die mexikanische Pazifikküste, 2000 Kilometer südlich von Los Angeles.

Die Geschichte ist die wohl unglaublichste Story des Jahres; doch wenn man die Männer, denen sie widerfahren ist, kennenlernt, nach stundenlangen, tagelangen Interviews, wird das, was sie erzählen, plausibel.

Die Geschichte beginnt am 29. Oktober 2005, um halb fünf Uhr morgens, als sich am Hafen von San Blas an der Westküste Mexikos fünf Männer treffen. Es ist noch dunkel.

Die ersten beiden heißen Salvador Ordoñez und Lucio Rendón. Salvador, mit 35 der Ältere, ist ein kleiner, sehniger Kerl mit freundlichen Augen. Mit vier hat er schwimmen gelernt. Seit er zwölf ist, arbeitet er als Fischer.

Sein Freund Lucio, 27, ist ein Mädchen-Typ: dunkle Locken, groß, fröhlich und ein guter Fußballer, defensives Mittelfeld. An diesem Morgen ist er unruhig. Zwei Polizisten waren in Lucios Dorf, suchten nach ihm, nächtlicher Einbruch in eine Shrimps-Farm, jemand muss ihn verpfiffen haben. Ein paar Tage auf dem Meer zu sein, denkt er, kann nicht schaden.

Der Dritte heißt Jesús Vidaña, der einzige der Männer, der verheiratet ist. Jesús trinkt und kifft zu viel, aber nüchtern ist er ein gewissenhafter Arbeiter, der sich nicht schont.

Der Vierte heißt Miguel Fercera, ein junger Kerl ohne Erfahrung auf dem Meer. Zuletzt kommt Juan David, der Kapitän. Er trägt eine schwarze Baseball-Kappe, ist muskulös und barsch.

Kapitän wird jeder, der Geld hat, um ein Boot zu mieten oder zu kaufen. Man holt sich Leute, besorgt Sprit, ein Netz oder eine Leine, bekommt die Hälfte oder zwei Drittel vom Fang, der im Schnitt bei 600 bis 800 Kilogramm liegt.

Juan, der Käpt’n, treibt seine Leute zur Eile. Sie beladen das Boot mit Wasserkanistern, Lebensmitteln und Getränkedosen. Zwei Säcke, prall gefüllt mit Eis, gehüllt in Decken. Zwei Messer, ein gusseiserner Fischhaken, zwei Kanister Benzin, insgesamt 45 Liter. Die Männer verstauen ihre Seesäcke und Taschen. Noch vor Sonnenaufgang tuckern sie hinaus.

Von diesen fünf Männern, die San Blas verlassen, werden nur drei zurückkehren.

Die 5000 Fischer von San Blas und Umgebung stehen am unteren Ende der sozialen Skala, ihr Monatsgehalt liegt bei etwa 150 Euro, weniger als ein Bauarbeiter oder Bauer verdient. Kaum ein Fischer arbeitet mit Lizenz, manche erledigen hier und da einen Drogentransport Richtung Norden. Dennoch haben sie ein trotziges Selbstbewusstsein. Ihnen gehört mehr als nur ein Stück Land, ein paar Reihen blöder Stangenbohnen. Ihnen gehört das Meer.

Juan, der Käpt’n, hat die beiden Yamaha-Außenbordmotoren angeworfen, sie machen etwa drei Knoten Fahrt. Die „Leviathan“ ist etwa achteinhalb Meter lang, drei Meter breit, ein plumpes, hochbordiges Gefährt aus Fiberglas, mit eingeschweißtem Schwimmkörper, der das Boot selbst im vollgelaufenen Zustand noch eine Handbreit über Wasser halten kann. Es gibt keine Kajüte, nur einen Stauraum im Bug. Die anderen vier Männer hocken auf dem Bootsrand.

Die ersten 40 Seemeilen, rund 70 Kilometer, vor der Küste von San Blas ist das Wasser flach, um die 20 Meter tief. Dann fällt das Kontinentalschelf steil ab. Das Wasser wechselt die Farbe, von Grün zu Blau. An den unterseeischen Hängen und Canyons gibt es ein Dutzend Hai-Arten, Goldmakrelen, Spanische Makrelen, Muränen, Barsche, Gelbflossen-Thunfische. Juan stoppt den Motor. „Fangen wir Haie“, sagt er.

Die fünf Männer auf der „Leviathan“ arbeiten mit einer sogenannten Langleine. Sie misst ungefähr sechs Kilometer, wird mit Bojen oben gehalten, hat rund 300 Ausleger, Vorfächer genannt – neun Meter lange Schnüre, besetzt mit schweren Haken. Bis zum Einbruch der Dunkelheit sitzen die Männer in der Abendsonne, spießen die Köder, spulen die Leine ins Wasser. Sie setzen fünf Leuchtbojen, um größere Schiffe vor der Leine zu warnen. Dann lassen sie sich treiben. Nachts treibt das Plankton an die Oberfläche, die kleinen und größeren Fische folgen. Die Männer dösen.

Sie fangen nichts, am nächsten Tag auch nicht. Am Abend des zweiten Tages zeigt Salvador auf eine Wolkenbank. Die sieht nach Problemen aus.

Fünf geostationäre Satelliten sind über dem Äquator positioniert, alle halbe Stunde machen sie ein Bild, tagsüber im sichtbaren Spektral-, nachts im Infrarotbereich. Über dem östlichen Pazifik steht der Satellit

GOES-W; an diesem 30. Oktober 2005 fotografiert er ein Tiefdrucksystem mit ausgeprägten Cumulonimbus-Clustern, im Randbereich kleinere, kreisförmige Gebiete mit Schauer- und Gewitterwolken. Die östlichen Ausläufer werden am Nachmittag des kommenden Tages die Küste erreichen, mit Wind der Stärke drei und Druckabfall um sechs Hektopascal. Ein Dutzendsturm.

Es sei denn, man ist mittendrin.

Das schwarze Wolkenband, vom Meer aus gesehen, ist schätzungsweise zwölf Kilometer hoch; eine Wand, die alles Licht schluckt. Gegen zwei Uhr morgens bricht das Gewitter los. Gischtfetzen fliegen, Blitze zucken. Die Luft ist wie elektrisch, die See gleißend hell, für Bruchteile von Sekunden. „Hast du die Leine gesichert?“, brüllt Salvador zu Juan hinüber, der am Motor steht. „Kümmer du dich um deine Arbeit“, schreit Juan, der Käpt’n. Die Fischer kauern am Boden des Boots.

Die Wogen tragen die „Leviathan“ auf Höhen von acht bis zehn Metern. Die Fischer werden gegeneinandergeschleudert wie Kugeln in der Schachtel. Mehrmals hocken sie bis zur Brust im Wasser, müssen Sturzseen ausschöpfen. Sie zittern vor Kälte, ihre Augen brennen.

Plötzlich ein scharfer Knall.

Joe Kissack hatte kaum seinen Uni-Abschluss in Marketing, da fand er einen Job bei Columbia Tristar Television. Er war charmant, optimistisch und von ganzem Herzen geldgierig, er war wie geschaffen für die Entertainment-Branche. Joe landete in der Syndication-Abteilung, verkaufte Filme, Serien, Shows an Fernsehsender. Bald war er Chef für den Südosten der USA. Dann bekam er den Südwesten dazu; dann den Mittelwesten; nach zwölf Jahren war Joe Executive Vice President, er hatte 250 Leute unter sich, und vor sich einen Schreibtisch, über den Milliarden-Verträge gingen.

Inzwischen war er sechs Tage die Woche unterwegs, rauchte täglich zwei Päckchen Marlboro, trank zu viel, besaß ein Haus, ein Boot, drei Autos. Es war das Leben, das er sich erträumt hatte. Bis er depressiv wurde.

Es begann schleichend, vor fünf, sechs Jahren. Er begriff nicht, was los war mit ihm. Er verheimlichte die Schübe, die heftiger wurden, Joe vernachlässigte seine Arbeit, seine Familie, sich selbst. Wurde entlassen, mit hoher Abfindung, fand einen anderen Job, wurde entlassen. Eines Nachts im Jahr 2002, erinnert sich Joe, war seine Frau so weit, sich scheiden zu lassen, er selbst hatte die Wahl zwischen Einweisung in eine teure Privatpsychiatrie oder Selbstmord. Er bevorzugte Selbstmord.

In dieser Nacht lag Joe im Ehebett im ersten Stock seines schönen Hauses in Atlanta, und zwischen ihm und seiner Frau Carmen stand eine Mauer, und er wusste, alles, wofür er gekämpft hatte, würde er verlieren.

In jener Nacht, so stellt es Kissack dar, geschah etwas mit ihm, was ihn offenbar rettete – Gott begegnete ihm. Am nächsten Tag jedenfalls sagte er seine Termine beim Psychiater ab, er fuhr stattdessen zur Kirche, hörte von nun an auf zu saufen, zu rauchen, zu fluchen, trat in einen Fitnessclub ein.

Von da an wurde viel gebetet bei den Kissacks. Er las die Bibel durch, dreimal. Kaufte sich bei „August House“ ein, einer verschlafenen Firma, die Bücher, Hörbücher, folkloristische Märchen produzierte. Morgens spielte er Tennis, nachmittags krempelte er die Firma um. Aber irgendwas fehlte. Ein Coup. Eine Story, wuchtig, voller Drama und Schicksal, ein Märchen, in dem Gott vorkommt.

Als sich der Sturm gelegt hat, am späten Nachmittag, sehen die Männer auf der „Leviathan“, dass sie ihre Langleine verloren haben. Das zweifingerdicke Tau ist gerissen, der Knall.

Einen gebrauchten Yamaha-Außenbordmotor kriegt man schon für etwa 3000 bis 4000 Euro, ebenso ein einfaches Fiberglasboot von rund acht Meter Länge. Für ein Netz oder eine Langleine mit Bojen hingegen muss man an die 8000 Euro zahlen – der Verlust kann Juan ruinieren.

„Wir finden die Leine“, sagt Juan, er wirft den Motor an, nimmt West-Kurs, „wir müssen sie finden.“

Sie suchen das Meer ab, finden nichts. Juan vermutet, dass die Leine aufs Meer getrieben wurde. Suchen weiter. Dann geht ihnen das Benzin aus.

Juan hat sich verkalkuliert.

Sie haben kein Segel, keine Ruder. Sie treiben, mehr können sie nicht tun.

Auf den „Routeing Charts“, herausgegeben vom britischen Hydrographic Office, lassen sich die Wind- und Strömungsverhältnisse jener Tage rekonstruieren. Es ist jetzt Anfang November, und die Männer haben vorwiegend Nordostwind, Windstärken meist zwischen vier und sechs.

Die „Leviathan“ kreuzt die großen Schifffahrtsstraßen zwischen San Francisco und Valparaiso. Aber die fünf Fischer sehen kein Schiff.

Sie rationieren die letzten Sandwiches. Ihre Wasser-Ration: morgens zwei Esslöffel, abends einer.

Ein Yamaha-Außenbordmotor besteht aus etwa 3500 Teilen, drei Hauptgruppen. Am Vergaser befinden sich die Rückholspiralfedern, etwa acht Zentimeter lang, Edelstahl. Um an die Antriebswelle des Motors zu gelangen, muss man sechs Sechskantschrauben lösen, dann die Antriebsritzelmutter. Die Welle steckt in einer Manschette, eine Stange, vergüteter Stahl, 92 Zentimeter lang.

Lucio schleift und glättet die Federn, er fertigt Angelhaken. Salvador schleift die Stange zu einem Speer. Sie teilen sich den Schleifstein, arbeiten sechs Tage und Nächte daran, sobald einem die Hände zu sehr zittern, reicht er den Schleifstein weiter.

Die anderen drei Männer liegen im Boot, verkriechen sich vor der brennenden Sonne. Lucios Casio-Armbanduhr geht noch, sie haben einen Bleistift, einen Kalender. Lucio macht jeden Tag eine Notiz.

Am 27. November kritzelt er: Seit 15 T. nichts gegessen, 5 T. ohne Wasser.

Am 28. November geht mittags leichter Regen nieder, sie können einen halben Liter auffangen, für jeden einen Schluck.

Der junge Miguel trinkt Salzwasser.

Jesús isst die Zahncreme.

Sie haben die Angelhaken ausgehängt, aber keine Köder, nur Stoff-Fetzen.

Salvadors Speer ist fertig, als Schaft hat er ein Stück aus der hölzernen Sitzbank herausgeschnitzt. Anfang Dezember nähert sich eine Dorade dem Boot. Salvador wirft den Speer, aber die Dorade weicht mit einer fließenden Bewegung aus. Der Speer versinkt, von der schweren Spitze gezogen, als dunkler Punkt im Blau; Salvador hat vergessen, eine Schnur an den Schaft zu binden. Er bricht, zornig auf sich selbst, die Triebwelle aus dem zweiten Motor, macht sich ans Schleifen. Etwa am 5. Dezember verirren sich ein paar fliegende Fische ins Boot, auf der Flucht vor Doraden. Salvador kann die zappelnden Tiere erhaschen, er schneidet sie in fünf gleiche Stücke, jeder der Männer kriegt ein fingerlanges Stück Fisch. Die Gräten verwendet Jesús als Angelköder, ergebnislos.

Um den 15. Dezember, sie sind nun 47 Tage auf See, kommt abermals ein Sturm auf, härter als der erste. Immer wieder wird das Boot vom Grund eines Wellentals emporgerissen, acht, zehn, zwölf Meter. Auf dem Wellenkamm klebt die „Leviathan“ dann sekundenlang wie auf dem Rücken eines tobenden Riesen, um im nächsten Moment fast senkrecht, so kommt es ihnen vor, abwärtszurasen, in eine Implosion aus Schaum und Dunkelheit. Sie verlieren eine Decke, Teile des zerlegten Motors gehen über Bord, die Angelhaken.

Irgendwann beugt sich Juan David, der Käpt’n, über die Bordwand und schreit ins Meer: „Was willst du? Hol uns, dann ist endlich Schluss!“

„Hör auf“, brüllt Jesús, „du machst das Meer nur noch wilder!“

„Betet, verdammt“, befiehlt Salvador.

Etwa 500 Seemeilen entfernt, im Hafen von San Blas, werden die fünf Männer nicht vermisst. Jesús‘ Frau weiß nicht, wo ihr Mann steckt, doch in ihrer Schicksalsergebenheit unternimmt sie nichts. Es kommt außerdem oft vor, dass Fischer in einem anderen Hafen an Land gehen, dass sie rasch wieder ausfahren, dass sie falsche Angaben darüber machen, wo sie fischen, um ihre Fischgründe nicht zu verraten.

Lucios uralte Großtante, Señora Panchita, die in einem schiefen Häuschen in dem Dorf Limon lebt, stellt jeden Tag für Lucio einen Teller auf den Tisch.

„Er lebt“, sagt sie.

Zwei oder drei Tage nach dem Sturm, das Wetter hat aufgeklart, sehen die fünf Männer eine grüne Meeresschildkröte. Salvador springt ins Wasser, eine Schnur ums Handgelenk, die ihn mit dem Boot verbindet. Er kann die Schildkröte hinten am Panzer fassen. Sofort beginnt sie mit heftigen Flossenschlägen abwärtszuschwimmen. Salvador drückt sie mit aller Kraft hinten herunter, lenkt ihre Schwimmbewegungen aufwärts. Vom Boot aus wirft Lucio eine Schlinge um eine Vorderflosse. So können sie das Tier, das mit seinen krallenbewehrten Flossen schlägt, ins Boot hieven. Sie drehen sie um. Die Schildkröte zieht Kopf und Flossen ein. Salvador drückt das Messer schräg in die Kopföffnung, schlägt es mit dem Schleifstein tief in die Hautwülste. Der Reptilienkopf schnellt vor, beißt um sich. Jesús hat das zweite Messer parat, schneidet den Kopf ab, legt ihn beiseite, wo er noch eine Weile wie erstaunt blinzelt und um sich schnappt. Für jeden ein Blechbecher Blut, es muss getrunken werden, solange es warm ist, es gerinnt schnell.

„Will nicht“, sagt Juan, der Käpt’n, als Salvador ihm eine Blechtasse hinhält.

„Nein“, sagt Miguel.

Die anderen drei Männer lösen den Panzer von der Bauchplatte, sie verschlingen die noch zuckenden, dampfenden Muskeln, die Därme, das Fett, sie knacken die Knochen, lutschen sie aus. Mehrmals, erinnern sich Salvador und die anderen heute, bieten sie Juan und Miguel etwas an, vergebens.

Weihnachten sind sie beinahe zwei Monate unterwegs und haben vermutlich mehr als 650 Seemeilen zurückgelegt. Gelegentlich Regen, nicht viel, doch genug, um nicht zu verdursten. Tagsüber kauern sie an der Bordwand. Frühmorgens und in der Abenddämmerung angeln sie. Salvador hat die zweite Harpune fertig.

Diese ersten drei Monate ihrer Reise, November bis Januar, überleben drei von den Männern nur knapp. Zwei schaffen es nicht. Am 20. Januar stirbt Juan, der Kapitän, wenig später der junge Miguel. Es ist kein dramatischer Todeskampf, eher ein unmerkliches Hinübergleiten. Die drei Überlebenden sind schon zu zermürbt, um viel zu empfinden. Lucio macht eine Notiz im Kalender. Sie nehmen Juans Gürtel, Miguels Hose, dann hieven sie die Leichen über Bord. Salvador hat in seinem kleinen Seesack eine Bibel, verschnürt in einer Plastiktüte. Er wickelt sie aus, versucht vorzulesen, aber er ist zu erschöpft.

In den nächsten Tagen fällt Regen.

Die Fischer von San Blas waren kaum gerettet, da tauchten Zweifel auf, Gerüchte: Hatten sie die anderen beiden Männer womöglich getötet, gegessen? Vor allem die mexikanischen Medien mochten den schaurigen Touch. Salvador, Lucio und Jesús beschworen zornig ihre Unschuld, boten an, sich einem Lügendetektor zu stellen. Auch jetzt wirken sie glaubwürdig, wenn sie ihre Geschichte erzählen, doch nur sie wissen, was sich wirklich abgespielt hat.

Die kommenden Monate, von Februar bis Juni, werden für die Fischer eine Zeit, da sich so etwas wie Routine einstellt. Die „Leviathan“ befindet sich Anfang Februar wahrscheinlich etwa auf Höhe des 132. Längengrades, bereits mehr als 1400 Seemeilen von San Blas entfernt. Ein treibendes Boot in dieser unermesslichen Weite ist für Meerestiere eine Art Erlebnispark. Kleine Fische interessieren sich brennend für die Algen, Würmer und winzigen Muscheln, die sich am Rumpf festsetzen; die kleinen Tiere locken größere an. Haie nutzen den Schatten, den das Boot wirft, als Deckung. Manche rempeln das Boot an, wie um herauszufinden, was es damit auf sich hat, ob es als Beute taugt.

Haie sehen die Fischer fast täglich. Blauhaie, schmal, schlank, nervös; Sandhaie,

mit spitzer Schnauze; auch große Weißflossenhaie, stämmige Ungetüme mit Längen bis zu vier Metern. Eines Nachmittags Anfang Februar schwimmt ein Sandhai nur wenige Handbreit unter der Oberfläche backbords neben dem Boot. Salvador greift zum Speer, und er trifft den Hai, von vorn und kurz hinterm Kopf. Der Hai versucht abzutauchen. Aber die Speerspitze sitzt in einem für das Tier ungünstigen Winkel, der Hai kann nicht fliehen. Aus der Wunde strömt eine dunkle Blutfahne.

„Halt ihn, lass ihn nicht entkommen!“

Salvador übergibt den Speerschaft an Jesús, reißt sich das Hemd herunter.

„Das Messer!“

Die Messer der Fischer sind bessere Küchenmesser, die Klinge etwa 20 Zentimeter lang. Salvador klemmt sie quer zwischen die Zähne. Springt über Bord, packt den Hai mit beiden Händen an der Schwanzflosse, dreht sie mit aller verbliebenen Kraft, wie man einen riesigen Schlüssel drehen würde. Der Hai ist etwa eineinhalb Meter lang, in der Körpermitte dick wie ein junger Baum. Aber er könnte mühelos einen Arm abbeißen.

Jesús hängt an der Bordwand, bemüht, den Speer tiefer ins Muskelfleisch zu bohren. Salvador muss die peitschende Schwanzflosse festhalten, mit der linken Hand hat er jetzt eine der Seitenflossen gepackt. Die Schwanzflosse darf er auf keinen Fall loslassen; doch wie den Stich führen?

„Mehr Haie“, brüllt Lucio, „da!“

Salvador, Kopf unter Wasser, hört nichts, sieht fast nichts, das Wasser schaumig und aufgewirbelt, aber er muss die Hand freihaben, er nimmt das Messer aus dem Mund und beißt zu, mit aller Kraft. Er beißt in die raue, mit zahllosen kleinen Widerhaken besetzte Schwanzflosse des Sandhais. Von den Flossenschlägen wird sein Kopf hin- und hergeworfen.

Salvador holt mit der rechten Hand aus. Sticht zu, das Messer rutscht ab, sein Kopf fliegt, er sticht wieder, hat Glück diesmal, die Klinge dringt ins Auge, nahe dem kleinen Gehirn des Tieres, dessen Bewegungen schlagartig ruhig werden, der Körper weich, schlapp. Lucio beugt sich über die Bordwand, packt die Rückenfinne und zieht, zusammen mit Jesús, erst den Hai, dann Salvador ins Boot. Das Messer steckt im Auge, die Kiefer schnappen noch. Lucio dreht die Klinge ins Hirn.

Salvador bekommt das Herz und die Leber, die anderen beiden bestehen darauf. Sein Gesicht, Arme und Brust sind zerkratzt, die Lippen aufgerissen, zwei Zähne locker. Zusammen essen sie den Mageninhalt, das Hirn, die Augen, sie lutschen an den Knorpeln, brechen das Rückgrat, um an die gelbe, krümelige Gelatine zwischen den Wirbeln zu kommen. Sie legen Streifen aus, um sie an der Salzluft zu dörren.

Anfang Februar sehen sie ein Schiff.

Wilde Hoffnung. Sie winken, schreien, doch der Wind verweht ihre Rufe. Hätten sie ein Feuerzeug, um ein qualmendes Feuer zu entzünden, oder wenigstens einen Spiegel, um Reflexe auf die Brücke zu schicken – doch sie können nur winken. Schiffe dieser Größe sind wie menschenleer, werden über weite Strecken per Autopilot gesteuert, die Crew sitzt die meiste Zeit unter Deck und schaut Pornofilme. So dröhnt der Frachter vorüber, mit entsetzlicher Bugwelle, die das Boot tanzen lässt.

Und dann ist er weg.

Stille.

Salvador betet heimlich, ein Deal: „Herr, ich opfere mich, wenn du meine Freunde rettest, Amen.“

Von März an regnet es fast täglich. Immer öfter kommen Vögel – die keinen Schlafplatz an Land brauchen – und lassen sich auf dem Boot nieder, vor allem Tölpel, drollig aussehende Vögel mit bläulichen Füßen, ausdauernde Flieger und hervorragende Taucher. Das Pech dieser Tölpel ist, dass sie offenbar kaum Erfahrung mit Menschen haben. Die Männer ducken sich, sind reglos, sobald ein Vogel heranfliegt. Der Tölpel watschelt übers Deck, inspiziert eine Weile, und sobald er seinen Schnabel unters Gefieder schiebt, springen sie auf und erschlagen ihn mit dem Speerschaft.

In den neun Monaten ihrer Reise fangen sie etwa 60 bis 70 Vögel. Die Männer essen die Knochen und knabbern die Schwimmfüße. Sie erbeuten etwa ein halbes Dutzend Schildkröten, Doraden, drei oder vier kleinere Haie, dazu Muscheln, Algen, Würmer, die sie regelmäßig vom Bootsboden pflücken – so kommen sie pro Kopf auf vielleicht 200 oder 300 Gramm rohes Fleisch beziehungsweise Fisch täglich. Sie haben rostige Nägel, an denen sie lutschen, der Mineralien wegen.

Die Ernährung ist einseitig, aber erhält sie am Leben. Mit regelmäßigerem Essen kehrt ihr Stuhlgang zurück, ungefähr alle zwei Wochen, eine Prozedur, die sie verkrampft vor Schmerzen an der Bordwand erledigen.

Wenn man schon in einer Nussschale einen Ozean überquert, dann ist der Pazifik ziemlich ideal, und zwar genau jene Breiten zwischen dem 5. und 25. Breitengrad. Die Strömung ist gleichmäßig, das Wetter im Passatwindgürtel verlässlich. Das Boot aus Fiberglas hält dem Salzwasser stand. Ab dem 136. Längengrad kreuzt die „Leviathan“ die Schifffahrtsrouten zwischen Australien und Nordamerika, Honolulu und Valparaiso. In den folgenden Wochen erblicken sie mehr als 20 Schiffe, ein Auf und Ab von wilder Hoffnung, wilder Enttäuschung, Lucio macht Kerben.

Im April schneiden sie sich gegenseitig die Haare und den Bart. Werfen die Büschel in den Wind.

Im Mai erfinden sie ein Spiel: Jeder darf sein Lieblingsmenü erzählen. Sie malen sich’s aus, reden stundenlang von Eisbomben, Obst, Hühnchen, Bananenbrot.

„Bananenbrot“, stöhnt Lucio.

„Erinnert ihr euch – an den Duft, wenn es ganz frisch ist?“, fragt Jesús.

Manchmal hält Salvador eine kleine Ansprache: „Gott prüft uns, aber er rettet uns immer wieder. Und ist nicht alles viel einfacher als zuvor? Wir haben zu trinken, zu essen, und wir haben unsere Freundschaft. Gott will, dass wir Freunde sind!“

Die Fischer von San Blas verbrachten 284 Tage auf dem Meer. Die britische Familie Robertson, deren Motorsegler „Lucette“ am 15. Juni 1972 von zwei Killerwalen attackiert wurde, nahe den Galapagos-Inseln, trieb 38 Tage durch den Pazifik. Der Amerikaner Steven Callahan trieb, nachdem sein Segelboot leckgeschlagen war, 76 Tage auf dem Atlantik, in einer Rettungsinsel. Solche Berichte sind unfassbar und dennoch wahr und faszinierend: Der Mensch hält viel aus.

Den drei Männern aus San Blas hilft ihr Stoizismus und dass sie das Meer von Kindheit an kennen – und dass sie zusammenhalten.

Doch im neunten Monat, im Juli, scheinen ihre Reserven aufgezehrt. Sie leiden an Muskelschwund. Jesús hat Nierenkoliken. Aus Lucios Ohren sickert Blut. Salvadors Augen haben schon länger gejuckt, im Juli sieht er einen dunklen Fleck, der jeden Tag größer wird. Sie dämmern oft.

Der Juli ist der Monat, wo das langsame Sterben beginnt.

„Ich habe keine Angst vor dem Tod“, sagt Salvador eines Abends, „nicht mit euch.“ Die Männer weinen, umarmen sich.

Doch dann – sie sind zu jenem Zeitpunkt zu apathisch, um sich an Details zu erinnern -, am 9. August, werden sie von einem Thunfisch-Fänger der taiwanesischen Koo’s Fishing Company gefunden, westlich der Marshall-Inseln.

Die Männer werden an Bord medizinisch behandelt und mit Suppen und Frühlingsrollen gepäppelt. Sie können nicht schlafen. Wenn sie ein paar Schritte gehen wollen, dann nur an der Kajütenwand. Es dauert Tage, bis sie begreifen, dass ihnen keine Gefahr mehr droht.

Über Honolulu und Los Angeles werden sie nach Mexiko geflogen, zwei Pressekonferenzen sind arrangiert, mit Hunderten Journalisten.

Anfang September sind die drei Fischer wieder in San Blas. Man gibt ihnen zu Ehren eine Party – Musik, Freibier, der Bürgermeister hält eine Rede, in der das Wort „Wunder“ vorkommt. Doch im Grunde ist die wunderbare Wiederkehr peinlich: verlorene Söhne, die kaum einer vermisste. Bis auf Señora Panchita, Lucios Großtante, die jeden Tag einen Teller für ihn hinstellte, sie lässt ihren Großneffen die ersten Tage kaum aus dem Haus.

Wegen des Vorwurfs, ihre zwei Leidensgenossen verspeist zu haben, wird das Wunder ihrer Rettung von Staatsanwalt Luiz Gomez Sanchez geprüft, der unter 013232850615 eine Akte anlegt, Vernehmungen macht, die Akte schließt.

Und dann reist ein Gringo an. Er trägt eine „Maui Jim“-Sonnenbrille, hat riesige Schalenkoffer, vollgestopft mit Laptops und Unmengen schicker Klamotten, er schmeißt mit Dollars um sich und fragt überall nach den Fischern. Sein Name: Joe Kissack.

Freundschaft, Abenteuer, Gott – alles war enthalten in der Story. Joe flog nach Mexico City, fuhr nach San Blas. Er staunte beklommen über den Schmutz, die Armut.

In San Blas überzeugte Joe den Bürgermeister. Der trommelte die Honoratioren zusammen, den Pfarrer, einen pensionierten Obsthändler, den Gewerkschaftssekretär, sie gründeten ein Komitee, um im Namen der Fischer zu verhandeln.

Joe hatte den Speisesaal vom Hotel „Casa Manana“ gemietet, alle eingeladen, einen Beamer aufgestellt. Dann machte er das Deckenlicht aus, ließ den Laptop aufleuchten, projizierte Charts und Listen. Sprach von potentiellen Partnern: Coca-Cola, Casio, Red Bull, Corona, CNN, Daimler-Chrysler, Lacoste und so weiter. Möglicherweise erst die werbliche Vermarktung und dann das Buch, den Film; vielleicht auch umgekehrt.

Die Fischer nickten.

„Die Strategie“, verkündete Joe, „ist entscheidend.“ Doch bei professioneller Vermarktung seien für jeden der drei Fischer in den nächsten acht Jahren 1,3 Millionen Dollar drin, konservativ geschätzt.

Die Fischer nickten.

Und jetzt schon würde Joe ihnen eine Art Gehalt zahlen, 2000 Dollar im Monat. Er holte Verträge hervor. Salvador stand auf und fragte, ob Joe ihnen Glauben schenke – wegen des Kannibalismus-Vorwurfs. Klar, sagte Joe. Salvador fragte, woher er so sicher sei, dass die Welt diese Geschichte hören wolle. Jedes große Projekt, sagte Joe, beginne damit, dass einer daran glaubt. „Außerdem ist es eine Geschichte, in der Gott vorkommt“, sagte Joe.

Die Fischer nickten.

Die Nacht vor der großen Präsentation ist stürmisch, doch Joe, auf seinem Zimmer, merkt nichts von dem rasenden Wind da draußen. Er trinkt Cola light und schreibt die Nacht hindurch an der Drehbuch-Skizze.

Am nächsten Morgen holt er den schnarchenden Jesús aus dem Bett und füllt ihn mit Kaffee auf. Salvador und Lucio sind frisch rasiert und pünktlich. Alle steigen in den riesigen dunkelgrünen Geländewagen, einen Ford Excursion. Joe schwingt sich hinters Lenkrad, sagt: „Freunde, die Show beginnt!“