Der Mann, der Pi war

Paris, um die Mittagszeit. Ein junger Engländer, seit fünf Jahren in Frankreich lebend, sitzt in einem Restaurant im Stadtteil Saint Germain. Er hat sich einen Platz etwas abseits von den anderen Gästen ausgesucht, die schwatzen, essen, lachen, er jedoch schweigt. Er hat die Augen geschlossen. Seine Hände liegen auf dem weißen Tischtuch. Die schmalen Finger sind ineinanderverflochten, die Knöchel treten weiß hervor.

Der Mann heißt Daniel Tammet. Er beherrscht Dinge, die kein anderer hier im Restaurant beherrscht, und wahrscheinlich auch nicht in ganz Paris, zum Beispiel auf Anhieb und im Kopf fünfstellige Primzahlen zu multiplizieren, und er kann sich 22 514 Nachkommastellen der Zahl Pi merken – aber er könnte niemals einen Führerschein machen. Zu viele Verkehrsschilder, Zahlen, Befehle, Geräusche. Er konnte auch nie einen Ball treten oder ein Glas Wein trinken oder eine Familie gründen.

Er steht jeden Morgen um sieben Uhr auf. Er macht sich jeden Morgen eine Schüssel Porridge. Er trinkt dazu genau eine Tasse Tee. Er hat sich antrainiert, im Gespräch zu lächeln, zu nicken, soziale Interaktion ist wichtig. Er lebt. Aber die Balance ist prekär.

In den achtziger Jahren, im Vorort Dagenham, im Osten Londons, wo Daniel Tammet aufwuchs, wurde er täglich verspottet, verprügelt, ausgegrenzt. Zahlen waren seine Freunde. Die 12 277 zum Beispiel, eine Primzahl, er kennt ihre Stimme, ihre Farbe. Oder die Zahl Elf. Sie hat nicht dieses Schwere, dieses Griesgrämige wie die Sechs.

„Ach, die Elf ist wirklich nett“, er lächelt.

Ein paar Tische weiter lässt ein Kellner Besteck fallen, die Messer und Löffel rasseln auf den Boden – Tammet zuckt zusammen, seine Augen flackern.

Er hat den Ort ausgesucht, beziehungsweise man hat ihm gesagt, dieses Restaurant sei geeignet für ein Interview. Tammet wirkt befangen. Er mag wahrscheinlich keine Interviews, er mag wahrscheinlich keine Fragen.

Dabei hat er so viele Antworten.

Daniel Tammet: 35 Jahre alt, Autist, Rechengenie – vor allem aber ein Buchautor, dessen Werke sich millionenfach verkauften, in 18 Sprachen übersetzt wurden.

In diesen Tagen erscheint sein neues Buch, es heißt „Die Poesie der Primzahlen“. Es ist eine Episodensammlung, wie nebenbei nähert sich Tammet seinen Themen: Wahrscheinlichkeitsrechnung, Sym-metrie, die Unendlichkeit. Immer wieder ist von Schönheit die Rede. Eigentlich ist es eine Liebeserklärung an seine Freunde, die Zahlen.

Seit einigen Jahren gibt es so etwas wie einen Trend, Bücher kommen auf den Markt, die den Normalsterblichen die Wunder der Mathematik, die Rätsel des Denkens erklären – origineller geschrieben als zuvor.

Im vergangenen Jahr erschienen beispielsweise „Homers letzter Satz“, ein Kompendium über die in den „Simpsons“ verborgenen mathematischen Anspielungen und Nerd-Witze; außerdem „Die Zahl, die aus der Kälte kam“, ein geistesgeschichtlicher Mathematik-Galopp – beide Bücher, so der Hanser-Verlag, verkauften sich auf Anhieb mehr als 100 000-mal. „Diese Bücher haben einen ganz neuen Stil“, sagt Christian Koth, Sachbuch-Cheflektor bei Hanser.

Manche tragen ihren frommen Wunsch im Titel: „Warum Mathematik glücklich macht“ heißt eine Anekdotensammlung, die Kuriosa interessanter verrührt, als jede Mathe-Stunde es vermochte. Oder: „Die Theorie, die nicht sterben wollte“, halb Biografie, halb Lehrbuch über Wahrscheinlichkeitstheorie. Und hin und wieder stößt man auf Werke von beunruhigender, glühender Intensität wie David Foster Wallaces Buch „Die Entdeckung des Unendlichen“ über den deutschen Mathematiker Georg Cantor.

„Dass Mathematik eines Tages solche Erfolge feiern würde, hätte ich nie gedacht“, sagt Lektor Koth.

Tatsächlich, die Fronten verschwimmen. Früher waren die Lager sauber sortiert. Eine Kluft von zuverlässiger Tiefe trennte die Rechner von den Romantikern, die Nerds von den Geisteswissenschaftlern, und den Mathe-Typen konnte man schon an der Uni unwidersprochen das Image anhängen, Sonderlinge zu sein. Schlau, aber schräg. Es waren Typen, die große grüne Tafeln eng mit Formeln vollschrieben, aber vergaßen, Socken anzuziehen. Die Abneigung war gegenseitig: Die Mathematiker langweilten sich wahrscheinlich mit Leuten, die Germanistik oder Kunstgeschichte oder Orientalistik studierten.

Diese Trennung in zwei Lager, in zwei Kulturen, hat Tradition, sie setzte ungefähr mit der Aufklärung ein, mit der Spezialisierung. Nun konnte oder musste man als Dichter und Denker wählen, wohin man gehörte, es gab zwei Türen. Auf der einen Tür stand: „Achtung, hier zählt nur, was man vernünftig begründen und beweisen kann“, auf der anderen Tür war zu lesen: „Sinn & Werte, Sozialtechniken“.

Die Geisteswissenschaftler wollen die Welt ergründen, indem sie die Werke des Menschen studieren, die Benutzeroberfläche des Lebens. Shakespeare und das Mittelalter, Monotheismus, Max Weber, Punk.

Mathematiker denken weiter. Der Mensch und sein zivilisatorisches Gedöns interessieren sie nicht, Gedichte, Utopien, Interpretationen, wozu soll das gut sein? Mathematiker wollen universelle Wahrheiten ergründen.

Vielleicht ist das sogar das härtere Los: ein einsames Tüfteln und Herumdenken im Steinbruch der Abstraktionen.

Aber dafür sind die Erkenntnisse der Mathematik unkaputtbar. Sie können nicht umgedeutet, in einem anderen Licht gesehen, anders interpretiert werden. Sie können gar nicht interpretiert werden. Der Satz des Pythagoras, a² + b² = c², für das rechtwinklige Dreieck, ist seit Tausenden Jahren im Umlauf und wird höchstwahrscheinlich gelten, solange das Universum existiert. Oder die jüngst bewiesene Poincaré-Vermutung. Oder die Erfindung der Null. Oder der Euklidische Algorithmus. Die Beständigkeit dieser Entdeckungen erwies sich als unschlagbarer Vorteil. Ohne Pythagoras, ohne die Möglichkeit, einen rechten Winkel zu konstruieren, hätte man kein vernünftiges Fenster bauen können, ohne Algorithmen könnte man keinen Satelliten betreiben.

Falls es so etwas wie ein Rennen gab zwischen Mathematikern und Geisteswissenschaftlern, so haben die Mathematiker gewonnen. Und auch noch auf einem Gebiet, auf dem doch eigentlich die Geisteswissenschaftler regieren wollten – im Koordinatensystem der Gesellschaft.

Mathematiker durchdringen und formen die moderne Gesellschaft stärker als alle Essayisten, Soziologen und Orientalisten zusammen. Wobei nicht sie regieren; sondern ihre Resultate. Vor allem Algorithmen sind die Zauberformeln unserer Zeit. „Algorithmen“, sagt auch Daniel Tammet, „haben echte Macht.“

Dabei sind Algorithmen zunächst nur Rechenanweisungen, eine möglicherweise sehr lange Kette von Wenn-dann-Befehlen. Doch mit der Leistungsexplosion der Computer begann auch der Siegeszug der Algorithmen. Algorithmen lenken Autos, suchen Terroristen, kaufen Aktien. Oder sie tun nur so, als ob sie Aktien kauften, sogenannte Raubtier-Algorithmen, die den Markt mit Kaufordern ködern, um Fehlreaktionen zu provozieren. Der US-Fernsehsender NBC berichtete unlängst, dass bei den Drohnen-Programmen in Pakistan in den Jahren 2009 und 2010 etwa die Hälfte der Tötungen lediglich auf Verhaltensmustern beruht haben soll – ohne Beweis, ohne Verhör. Ein Algorithmus kommt zu einem Ergebnis, und irgendwo in Peschawar stirbt ein Mensch. Vielleicht war es ein Terrorist, vielleicht auch nicht. Google entwickelt derzeit ein Auto, das selbständig fährt, mit Hilfe von Algorithmen. Google selbst ist ein Imperium aus Algorithmen.

Die Mathematiker mögen gewonnen haben; doch zum Glück braucht die Welt auch Verlierer, Deuter, Romantiker. Menschen sind mutig, heiter, grausam, depressiv, schwatzhaft – das lässt sich nicht codieren. Das Leben selbst ist unberechenbar und sinnlich. Wer Spanien verstehen will, muss Goya verstehen, wer Goya verstehen will, sollte Feuchtwanger lesen oder Robert Hughes. Höchste Zeit also, den Krieg zwischen den zwei Kulturen beizulegen, Brücken zu bauen, Bücher zu schreiben.

Einer der begabtesten Brückenbauer ist dieser schüchterne, bebrillte Engländer, der im Restaurant in Paris sitzt. Daniel Tammet, der Autist, hat die Hälfte seines Lebens damit verbracht, sich zu verkriechen; die zweite Hälfte, um aus seinem Gehäuse auszubrechen, die Einsamkeit zu überwinden.

Tammet wurde geboren als Sohn eines Fabrikarbeiters, der seinen Job verlor, Daniel war das erste von neun Kindern, die unter heldenhafter Verleugnung der Umstände auf die Welt kamen. Ein schreckhafter, scheuer Junge sei er gewesen, sagt er, oft angeraunzt von seinem Vater, wegen seiner zwei linken Hände und weil er Erwartungen nicht erfüllte. Aber er wurde geliebt von seiner Mutter. Diese Liebe muss für ihn wie eine Nährstofflösung gewesen sein, die ihn am Leben hielt – dort, wohin er sich verkroch.

Um sein bedrückendes, seltsames Leben wenigstens zu verstehen, betrieb er Mathematik: Er versuchte sich an einem mathematischen Modell seiner Mutter, um ihr Verhalten vorherzusagen. In seinem Buch verknüpft er solche Erlebnisse mit Ausflügen in die Zahlentheorie, in die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Geschichten sind lustig, traurig und anrührend.

Irgendwann entdeckte er die Zahl Pi, die das Verhältnis von Kreisumfang zu Durchmesser angibt, 3,14 und so weiter, eine verschrobene Zahl, nicht periodisch, irrational, transzendent, wunderbar. Pi war wie Daniel, er beschloss, ihre Ziffernfolge auswendig zu lernen, wenigstens auf rund etwa 22 000 Stellen.

„Ich druckte sie mir auf frische, briefbogengroße Blätter, jeweils 1000 Ziffern pro Seite, und schaute sie mir an, wie ein Maler in eine seiner Lieblingslandschaften eintaucht“, schreibt er. „Aus den Hunderten und später Tausenden formte sich, sorgfältig dargestellt und abgewogen, allmählich eine Zahlenlandschaft.“

Und dann machte Pi ihn zum Star.

Vor ziemlich genau zehn Jahren fuhr Daniel Tammet zum Museum for the History of Science der Universität von Oxford. Fünf Stunden und neun Minuten lang sagte er 22 514 Nachkommastellen von Pi korrekt auf, vor staunendem Publikum und unter strenger Aufsicht von sieben Mathematikern. Dieser europäische Rekord, die Anerkennung, war für ihn eine Art Befreiung, brachte den Durchbruch.

Seitdem ist Daniel Tammet unterwegs. Die Zahlen bleiben seine Freunde; aber er will jetzt auch mit Menschen umgehen können. Drei Bücher hat er geschrieben, zurzeit übersetzt er Gedichte ins Französische, er lernt Sprachen, schreibt sich lange Briefe mit dem Romanautor Paulo Coelho, den er bewundert.

Es sieht leicht aus, aber es war ein langer Weg aus der Einsamkeit und Kälte. Das großartige Porträt zum Beispiel des französischen Fotografen Patrick Swirc, das diesen Artikel hier illustriert und das Daniel mit geschlossenen Augen zeigt – so sieht er sich nicht, so will er nicht sein, kein in sich versunkener Gedächtnis- und Zahlenfreak.

Daniel Tammet ist 35 Jahre alt. Er wird in den kommenden Jahren schreiben, von Zahlen, Schach und Mathematik erzählen, er wird auf diese Weise versuchen, seine Einsamkeit zu überwinden, Brücken zu bauen. Er kämpft um sein Glück, und um mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu sprechen: Seine Chancen sind größer als 0,5.